Olympia

Turner Hambüchen hasst Medaillenzählerei

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Rio de Janeiro (dpa) – Deutschlands bekanntester Turner Fabian Hambüchen nimmt kein Blatt vor den Mund. «Ich hasse die Medaillenzählerei, jeder von uns reißt sich den Arsch auf und gibt sein Bestes», kritisierte der Olympia-Zweite am Reck von 2012.

Sinn und Unsinn der rituellen olympischen Medaillen-Hochrechnerei wurde selten so krass sichtbar wie vor vier Jahren in London. 86 Medaillen, darunter 28 aus Gold, hatten die Fachverbände dem Deutschen Olympischen Sportbund als Zielvorgabe avisiert. Dabei hatte man nicht mal nach der Wiedervereinigung mit einem deutschen Gesamtteam 1992 in Barcelona so viele Medaillen gewonnen. In London waren es am Ende «nur» 44 Edelplaketten, inklusive elf Olympiasiegern.

Auch bei den Sommerspielen in Rio de Janeiro sollen es wieder so viele Medaillen wie an der Themse werden. «Da höre ich nicht hin, das interessiert mich nicht», sagte die Berliner Bogenschützin Lisa Unruh. «Jeder Sportler wird sein Bestes geben, man kann nichts anderes machen. Man ist nur ein Mensch, keine Maschine.»

Als gesellschaftliches Problem sieht Andreas Bretschneider die ganze Rechnerei («Darauf habe ich keinen Bock»). Die Hälfte der Nation guckt sich Dritt- und Viertliga-Spiele im Fußball an und zahlt dafür Geld», schimpfte der Olympia-Mitfavorit am Reck. «Aber die eigentlichen Sportler in diesem Lande werden auf drei Sachen reduziert und das sind Gold, Silber und Bronze.» Und wenn sie das nicht erreichten, seien sie schlecht. «So ist es doch bei uns.»

Kritisch sieht auch Siebenkämpferin Claudia Rath die Medaillen- Fixierung. «Eine Medaille heißt: Drittbester der Welt. Und die Welt ist riesengroß. Warum ist ein zehnter Platz nicht auch Wahnsinn?», sagt die 30-jährige Frankfurterin. «Mich ärgert, dass gar nicht auf die Athleten geguckt wird, sondern nur: Wir haben eine Medaille mehr.»

Dieses Medaillenzählen sei aber eigentlich nur für die Funktionäre etwas Wichtiges – «und scheinbar auch für die Bundesregierung», sagte Schwimm-Weltrekordler Paul Biedermann. «Ich glaube viele Zuschauer erfreuen sich einfach an der Leistung und an den Sportlern.»

Eingeschränktes Verständnis für Erfolgskalkulationen hat Kristina Vogel. «Natürlich will jeder gern eine Goldmedaille nach Hause holen», erklärte die Bahnrad-Olympiasiegerin. «Ich verstehe diese Zielvorgaben, weil ja Millionen in dieses Sportsystem investiert werden. Aber was ist denn, wenn wir es nicht erreichen? Sind wir dann schlechter? Die Frage kann ja keiner richtig beantworten.»

Nichts gegen diese umstrittenen Vorhersagen hat Gewichtheber Jürgen Spieß. «Man muss ja irgendwelche Ziele haben», sagte der 32-jährige Heidelberger. «Man kann ja nicht einfach dahinfahren und sagen: «Wir wollen gute Laune haben.»»

In Zeiten von Doping-Skandalen wie um Russland hat DOSB-Präsident Alfons Hörmann vor Eröffnung einen eigenen «deutschen Weg» bei den Rio-Spielen entworfen. «Wenn wir auch von Anfang an die alleinige Fokussierung auf Medaillen als fragwürdig angesehen haben, verliert sie jetzt noch mehr an Berechtigung», sagte der Chef des Deutschen Olympischen Sportbundes. «Ehrlichkeit und Anstand im Wettbewerb, keine Siege um jeden Preis bedeuten für uns mindestens so viel wie die eine oder andere Medaille mehr.»

An die 423 deutschen Sportler appellierte Hörmann, dass die Spiele für sie nicht nur «Kampf und Krampf» sein sollten. «Wir wollen mit Herzblut, Engagement und Leidenschaft auch den Menschen in der Heimat die schönen Seiten des Sports wieder nahe bringen», erklärte Hörmann. «Wir machen uns auf den deutschen Weg und wollen vorbildlich und als Musterbeispiel vorangehen.»

Begrüßt wird die Einstellung des obersten deutschen Sportfunktionärs vom Deutschen Leichtathletik-Verband. «Es freut mich, wenn der DOSB-Präsident vor den Spielen in Rio öffentlich sehr deutlich darlegt, dass wir den Medaillenspiegel nicht zum Maß aller Dinge machen sollten», meinte DLV-Sportdirektor Thomas Kurschilgen. «Die «eindimensionale Aussagekraft» eines Medaillenspiegels sei entbehrlich, ebenso der Vergleich zu Ergebnissen aus den Vorjahren: Sie hätten wegen zum Teil völlig unterschiedlicher sportfachlicher Ausgangsvoraussetzungen nur einen «sekundären Wert».

Fotocredits: Bernd Thissen

(dpa)